Die Altgermanistik ist ein Teilbereich der Germanistik, der sich in historischer, sprachwissenschaftlicher, literaturwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Perspektive mit den ältesten schriftlich und mündlich überlieferten Zeugnissen der germanischen Sprach- und Literaturgeschichte sowie der geistigen und materiellen Kultur der germanischen Völker befasst. Als akademische Disziplin bildet sie seit dem 19. Jahrhundert ein eigenständiges Forschungsfeld, dessen Ursprünge eng mit der Entwicklung der historischen Sprachwissenschaft und der vergleichenden Philologie im Zeitalter des deutschen Idealismus und der Romantik verbunden sind. Im Zentrum der altgermanistischen Forschung stehen die alt- und frühmittelalterlichen Textüberlieferungen, die germanischen Sprachen in ihren ältesten schriftlich belegten Stadien und die Rekonstruktion der vormodernen, vorchristlichen Glaubensvorstellungen und kulturellen Ausdrucksformen der germanischen Stämme und Gemeinschaften in der Spätantike und im Frühmittelalter.

Begriffsgeschichte und Disziplingeschichte

Die Bezeichnung „Altgermanistik“ als Fachterminus setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch, als die Germanistik als akademische Disziplin eine differenzierte Gliederung erfuhr und sich in verschiedene Teilbereiche aufgliederte. Während die Germanistik ursprünglich als übergeordnete Bezeichnung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den germanischen Sprachen und Literaturen in ihrer Gesamtheit diente, etablierte sich die Altgermanistik zunehmend als Bezeichnung für die Beschäftigung mit den ältesten schriftlichen Zeugnissen der germanischen Völker, insbesondere aus der Zeit vor der Ausbildung der mittelhochdeutschen und mittelniederdeutschen Literaturen. Ihren institutionellen Ursprung nahm die Altgermanistik im universitären Kontext des 19. Jahrhunderts, als sich die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft unter maßgeblicher Beteiligung deutscher und skandinavischer Gelehrter herausbildete. Bedeutende Anfänge lassen sich bei Jacob Grimm und Rasmus Christian Rask verorten, deren Arbeiten zur germanischen Sprach- und Literaturgeschichte, insbesondere Grimms „Deutsche Grammatik“ und Rasks vergleichende Studien zur germanischen Lautlehre, den methodischen Grundstein für die altgermanistische Forschung legten.

Forschungsgegenstand und Aufgabenfelder

Gegenstand der Altgermanistik sind in erster Linie die ältesten schriftlichen und mündlichen Überlieferungen der germanischen Völker, insbesondere in den altgermanischen Sprachen Alt- und Althochdeutsch, Altsächsisch, Altnordisch, Gotisch, Altenglisch und Altfriesisch. Hinzu treten runenepigraphische Zeugnisse, archäologische Quellen und die frühmittelalterlichen Missions-, Rechts- und Geschichtsschriften, die germanische Sprach- und Kulturgeschichte bezeugen. Ein besonderes Augenmerk der Disziplin gilt der Erschließung und kritischen Edition dieser Texte, ihrer sprachhistorischen und literarischen Analyse sowie der Erforschung ihrer kulturgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Hintergründe. Zu den wesentlichen Aufgaben der Altgermanistik gehört die sprachliche Rekonstruktion des Urgermanischen als hypothetischer Vorstufe aller germanischen Einzelsprachen, die Erforschung der Laut-, Formen- und Wortbildungslehre sowie der Syntax dieser Sprachen in ihrem frühen Stadium und die Analyse der literarischen Formen und Gattungen, zu denen Heldenepen, Spruchdichtung, religiöse Lieder und Gesetzestexte zählen. Einen weiteren zentralen Forschungsbereich bildet die Untersuchung der vormodernen Glaubensvorstellungen, Riten und Mythen der germanischen Stämme, die in literarischen Texten, Runeninschriften und antiken sowie frühmittelalterlichen Berichten überliefert sind.

Entwicklung der Methodik und Theoriebildung

Die Methodik der Altgermanistik wurde maßgeblich durch die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft des frühen 19. Jahrhunderts geprägt, deren wichtigste Vertreter Jacob Grimm, Rasmus Christian Rask und Franz Bopp waren. Die Anwendung der Lautgesetze, die systematische Erfassung sprachlicher Übereinstimmungen und Abweichungen und die Rekonstruktion sprachgeschichtlicher Entwicklungsprozesse bildeten die Grundlagen der altgermanistischen Philologie. Grimms Gesetz über die Lautverschiebung im Germanischen und Verner’s Gesetz zur Erklärung scheinbarer Unregelmäßigkeiten in diesem System gelten als Meilensteine der Disziplin. Im literaturwissenschaftlichen Bereich wurde zunächst ein idealistisch-romantischer Zugang bevorzugt, der die Überlieferungen der Germanen als Ausdruck einer ursprünglichen, „volksnahen“ Dichtung und Weltanschauung verstand. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann ein historisch-kritischer Ansatz an Bedeutung, der sich um die quellenkritische Einordnung, die Textgenese und die Überlieferungsgeschichte bemühte. Im 20. Jahrhundert wurde die Disziplin zunehmend von strukturalistischen und semiotischen Ansätzen beeinflusst, die die sprachlichen und literarischen Systeme der altgermanischen Texte als eigenständige kulturelle Konstrukte betrachteten. Auch interdisziplinäre Ansätze, die archäologische, religionswissenschaftliche und kulturhistorische Befunde einbezogen, prägten fortan das Methodenspektrum der Altgermanistik.

Sprachwissenschaftliche Grundlagen

Die altgermanistischen Sprachstudien konzentrieren sich auf die Untersuchung der germanischen Sprachen in ihren ältesten belegten Stadien und ihrer Entwicklung aus dem indogermanischen Sprachverband. Im Zentrum steht dabei die Erforschung des hypothetischen Urgermanischen, das als gemeinsame Vorstufe aller späteren germanischen Einzelsprachen rekonstruiert wird. Die Rekonstruktion erfolgt anhand der vergleichenden Analyse der belegten altgermanischen Sprachen sowie unter Berücksichtigung der indogermanischen Etymologie. Von besonderer Bedeutung sind dabei die germanische Lautverschiebung, die den Übergang vom Urindogermanischen zum Urgermanischen markiert, sowie die späteren spezifischen Lautwandelprozesse in den einzelnen Sprachen. Die ältesten schriftlichen Denkmäler bilden das gotische Bibelübersetzungswerk des Wulfila aus dem 4. Jahrhundert, die altnordische Edda-Literatur, althochdeutsche Glossen und altsächsische Dichtungen. Auch Runeninschriften aus dem 2. bis 8. Jahrhundert liefern wertvolle Zeugnisse für die Sprachstufen vor und während der Christianisierung germanischer Gebiete. Die altgermanistische Sprachwissenschaft befasst sich ferner mit der Morphologie, der Syntax und dem Wortschatz dieser Sprachen und deren diachroner Entwicklung bis zum Hochmittelalter.

Literaturwissenschaftliche Aspekte

Die literaturwissenschaftliche Altgermanistik widmet sich der Analyse, Interpretation und Edition der literarischen Überlieferungen der altgermanischen Sprachen. Zu den wichtigsten Texten zählen das altnordische Heldenepos „Beowulf“, das althochdeutsche „Hildebrandslied“, das altsächsische „Heliand“, die altnordische Edda, zahlreiche Runeninschriften mit poetischen Formeln sowie Spruch- und Zaubersprüche aus verschiedenen Regionen des germanischen Siedlungsraums. Ein besonderes Forschungsinteresse gilt den Gattungsformen der altgermanischen Literatur, darunter Heldendichtung, Spruchdichtung, religiöse Hymnen und mythologische Erzählungen. Die Erschließung dieser Texte erfolgt auf Grundlage historisch-kritischer Editionen, die seit dem 19. Jahrhundert von bedeutenden Philologen wie Karl Müllenhoff, Elias Wessén und Andreas Heusler erstellt wurden. Moderne literaturwissenschaftliche Ansätze analysieren die altgermanischen Texte zudem unter narratologischen, poetologischen und kultursemiotischen Gesichtspunkten und untersuchen die Funktionen von mündlicher Überlieferung, Performanz und kollektiver Erinnerung in der vormodernen germanischen Gesellschaft.

Kultur- und Religionsgeschichte

Ein weiterer bedeutender Aufgabenbereich der Altgermanistik ist die Erforschung der geistigen, materiellen und sozialen Kultur der germanischen Völker der Spätantike und des Frühmittelalters. Die Disziplin untersucht die Überlieferungen zu religiösen Vorstellungen, Mythen, Kultpraktiken und Rechtsauffassungen der Germanen anhand literarischer, epigraphischer und archäologischer Quellen. Dazu zählen etwa Berichte antiker Autoren wie Tacitus’ „Germania“, die mythologischen Erzählungen der Edda sowie archäologische Funde wie Runensteine, Gräber und Opferplätze. Die altgermanistische Religionsforschung widmet sich der Rekonstruktion des vorchristlichen Pantheons, der Götter- und Heldenvorstellungen, der Jenseitsvorstellungen und Opferbräuche sowie der Überlieferung von Mythenzyklen und Heiligtümern. Dabei werden sowohl literarische als auch materielle Quellen unter interdisziplinärer Einbeziehung der Archäologie, Religionsgeschichte und Anthropologie ausgewertet. Die Rechts- und Sozialgeschichte der Germanen, dokumentiert in frühen Rechtstexten wie dem „Lex Salica“ und dem „Sachsenspiegel“, bildet ein weiteres Untersuchungsfeld, das Rückschlüsse auf Gesellschaftsstruktur, Normensysteme und Herrschaftsformen ermöglicht.

Institutionelle Verankerung und gegenwärtige Forschung

Die Altgermanistik ist an zahlreichen Universitäten im deutschsprachigen und skandinavischen Raum sowie in Großbritannien und Nordamerika als Teilbereich der Germanistik oder der Mediävistik institutionalisiert. In Deutschland bestehen altgermanistische Professuren und Forschungsstellen an traditionsreichen Standorten wie Göttingen, Heidelberg, München und Berlin. Internationale Bedeutung besitzen Institute in Kopenhagen, Oslo, Reykjavík, Cambridge und Oxford. Die altgermanistische Forschung ist durch eine enge Vernetzung mit Nachbardisziplinen wie der Indogermanistik, Skandinavistik, Runologie, Archäologie und Frühmittelalterarchäologie geprägt. Bedeutende Fachzeitschriften und Publikationsorgane sind unter anderem die „Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur“, das „Germanische Altertumskunde Online“ und die „Saga-Book of the Viking Society“. Gegenwärtige Forschungsthemen umfassen die Digitalisierung altgermanischer Textcorpora, die Untersuchung von Performanz und Oralität in der frühmittelalterlichen Literatur, die Neubewertung der Christianisierung germanischer Gemeinschaften sowie die Rolle altgermanischer Überlieferungen in der europäischen Literatur- und Ideengeschichte. Besonders intensiv wird derzeit die kultursemiotische und religionsgeschichtliche Kontextualisierung von Mythen und Ritualen der Germanen unter Einbeziehung archäologischer Funde und ikonographischer Zeugnisse betrieben, wobei digitale Methoden und interdisziplinäre Ansätze eine wachsende Rolle einnehmen.

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